Der junge Horace, ein Halbindianer, der einen schlechten Start ins Leben hatte, hat Glück gehabt: seit einigen Jahren lebt und arbeitet er auf der Farm von Mr. Reese. Der ist ein grundgütiger alter Mann und behandelt ihn wie seinen Sohn. Dieser soll sogar später die Farm übernehmen. Doch Horace will hoch hinaus: Er will unbedingt Boxchampion werden und es allen zeigen. Mr. Reese lässt ihn schweren Herzens ziehen und Horace verspricht, eines Tages zurückzukehren. Unter harten Bedingungen kämpft er sich durch. Erfolg wechselt mit Niederlage – wird er es schaffen? Mr. Reese telephoniert gelegentlich mit ihm, doch irgendwann ist Horace spurlos verschwunden. Beunruhigt macht sich Mr.Reese auf die Suche.
Der amerikanische Traum, alles erreichen zu können, wenn man nur will, entwickelt sich in diesem großartigen und berührenden Roman zum Alptraum. Dass er trotzdem nicht deprimierend wirkt, liegt an dem unvergesslichen Mr.Reese, wirklich ein „feiner Typ“!
Diese Großmutter hat es in sich! In Russland soll sie eine gefeierte Tänzerin gewesen sein, jetzt lebt sie mit ihrem Mann und dem Enkel Max in einem Flüchtlingsheim in Deutschland. Dort hat sie Mann und Enkel fest im Griff. Vor allem will sie Max vor den schädlichen Einflüssen der neuen Heimat beschützen: vor ungesunden Nahrungsmitteln, vor dem deutschen Schulsystem, vor gefährlichen Betätigungen und dem eigenen Vater. Nur den Klavierunterricht erlaubt sie, doch die Klavierlehrerin ist nicht so harmlos wie es scheint. Fast könnte die Matriarchin ins Wanken geraten... Die ganze Geschichte wird aus der Sicht von Max erzählt, der sich erstaunlich robust durch den Irrsinn der Erwachsenen hindurchlaviert.
Alina Bronsky, selbst in den Neunzigerjahren aus Russland eingewandert, erzählt furios und mit bösem Witz von eigenwilligen und zugleich liebenswerten Charakteren, deren Leben nicht ohne Tragik ist.
Richard, ein Glaziologe, erforscht das Schwinden der Gletscher und ist beruflich viel unterwegs, seine Frau Natascha ist Schriftstellerin und mehr an menschlichen Angelegenheiten interessiert. Die beiden haben sich über die Jahre auseinandergelebt und nur noch wenig gemeinsam. Das wird deutlich, als Natascha trotz Richards Bedenken ihr abgelegenes Ferienhaus nahe Hamburg einer syrischen Flüchtlingsfamilie überlässt und dies auch öffentlichkeitswirksam in einem Video festhalten lässt. Es kommt zu fremdenfeindlichen und bedrohlichen Aktionen gegenüber den Syrern, was bei Natascha zu einem übertriebenen und schließlich verhängnisvollen Schutzverhalten führt, während Richard zunehmend Mißtrauen gegenüber dem syrischen Familienvater entwickelt. Ist er überhaupt, was er zu sein vorgibt? Norbert Gstrein, der in seinen Romanen häufig aktuelle Themen bearbeitet, fragt skeptisch nach den inneren Beweggründen unseres Verhaltens. Humanitärer Eifer oder Nichtstun – was treibt uns an? Ein sehr lesenswerter Beitrag in einer oft überhitzten Debatte.
Sonja, 62 Jahre alt und seit 30 Jahren zusammen mit ihrem Mann Bruno Chefin des „Lindenhof“, einem der Wie ist es, auf einen Schlag alles zu verlieren? Ehepartner, Arbeit und Zuhause? Genau das passiert angesagtesten Hotels am Bodensee. Nach dem Tod ihres Mannes stellt sich heraus, dass das Haus hoffnungslos verschuldet ist. Ihr Schwager erklärt sich bereit, es zu übernehmen unter der Bedingung, dass Sonja geht und auf alle Ansprüche verzichtet. Weit weg versucht sie einen Neuanfang; an der Küste von Wales übernimmt sie eine heruntergekommene Pension mit Bar, die nur selten Gäste hat. Auf ihren täglichen Spaziergängen an den Klippen entlang versucht sie innerlich zu ordnen, was ihr widerfahren ist. Ist es die absolute Katastrophe oder vielleicht auch eine neue Freiheit? Hat sie Erfolg mit Glück verwechselt? Und ist angesichts der Wucht des uralten Meeres ihr kleines Schicksal nicht bedeutungslos? Selten ist über das Unglück so nachdenklich und poetisch geschrieben worden.
Der Londoner Psychiater Robert Hendricks erhält eines Tages eine rätselhafte Einladung des 90-jährigen Neurologen Pereira, der auf einer kleinen Insel vor der französischen Küste lebt. Wie sich herausstellt, hat dieser Hendricks Vater gekannt, der im 1. Weltkrieg auf unklare Weise umgekommen ist. So wird die Reise zu einer Reise in die Vergangenheit, und Hendrick, der bisher sein Leben eher emotionsarm gelebt hat, wird mit intensiven Erinnerungen konfrontiert: an die vaterlose Kindheit, an seine eigenen Erlebnisse im Krieg und an die Italienierin „L“, seine große Liebe, die ihn damals so plötzlich verlassen hatte. Er erkundigt sich nach ihrem Aufenthaltsort und plant ein Wiedersehen. Wie wird das werden?
„Der große Wahn“ ist die meisterhaft erzählte Lebensgeschichte eines einsamen Mannes, verwoben mit einer eindringlichen Schilderung des Kriegsgeschehens im 20. Jahrhundert.
Edward, ein berühmter englischer Schriftsteller kehrt als alter Mann in jenes herrlich gelegene japanische Hotel zurück, in dem er 1950 seinen ersten Bestseller schrieb. Es war ein amerika- kritischer Roman über den Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, der für Furore sorgte. Im Hotel hatte er eine Liebesbeziehung zu dem Zimmermädchen Sumiko, die mit seiner Rückkehr nach England ihr Ende fand. In England nahm er dann das konfliktbeladene Verhältnis zu seiner früheren Freundin Macy, einer begabten Künstlerin, wieder auf.
Jetzt im Jahr 2003 macht er die Erfahrung: nichts von all dem ist wirklich vergangen. Er trifft Sumiko wieder und bekommt auch nochmals mit Macy zu tun, von der er längst getrennt ist. Vor allem aber wird er mit seinem eigenen Versagen konfrontiert.
Ein spannend und poetisch geschriebener Roman, dem man die Liebe des Autors zur japanischen Kultur abspürt.
Zwanzig Jahre nach „Der Gott der kleinen Dinge“ hat Arundhati Roy ihren zweiten Roman vorgelegt. Ihr intensives politisches Engagement der letzten Jahre ist in dieses Buch eingeflossen, aber auch ihre literarische Kraft. Es ist eine mutige, schonungslose Bestandsaufnahme des modernen Indien, eine Geschichte, “von unten“ erzählt. Gegen politische Unterdrückung und Gewalt, gegen die korrupten Machtinteressen von Industrie und Politik und einzelner Kasten, gegen all die religiösen Kämpfe steht die Solidarität einer kleinen ausgegrenzten Gemeinschaft, die auf einem Friedhof in Delhi haust. Arundhati Roy schont den Leser nicht, ihr literarischer Stil rüttelt auf und bewahrt zugleich vor Hoffnungslosigkeit.
Die siebzehnjährige Türkin Hazal lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung im Berliner Wedding. Der Vater ist Taxifahrer und schlägt auch gerne mal zu, die Mutter sitzt untätig zu Hause und guckt türkische Fernsehserien, der Bruder entwickelt sich zum Kleinkriminellen, während für Hazal alles verboten ist, was Spaß macht. Sie jobbt in der Bäckerei ihres Onkels, alle anderen Bewerbungen waren bisher erfolglos. Als „Opfer“ fühlt sie sich trotzdem nicht; sie hat vielmehr eine Riesenwut im Bauch, „eine Wut auf die Ellbogen, die uns das Leben reingerammt hat, immer wieder, und immer noch.“ Das macht sie stark – und gefährlich. An ihrem 18. Geburtstag gerät sie in eine verhängnisvolle Situation, wird gewalttätig und schließlich zur Mörderin. Keinesfalls hat sie vor, sich der Polizei zu stellen. Sie flüchtet nach Istanbul zu einem Bekannten, den sie nur vom Skypen kennt und muss feststellen, dass sie sich in der Türkei noch überflüssiger fühlt als in Deutschland. Wie wird es mit ihr weitergehen? Kann es einen Neuanfang geben ohne dass sie sich ihrer Verantwortung stellt und Empathie lernt? Fatma Aydemir hat ihr Buch im Ich-Stil geschrieben, was einen direkten Einblick in die ver- störende Empfindungswelt dieser jungen Frau ermöglicht. Es bietet keine Lösungen an, öffnet aber die Augen für Menschen in Milieus, über die wir viel zu wenig wissen und erst recht nicht kennen.
England 1946. Nach dem Schulabschluss hat Robert keine anderen Zukunftsaussichten als im Bergbau zu arbeiten. Doch zuvor will er ein einziges Mal das Meer sehen. Über Wochen hinweg ist er zu Fuß in der Natur unterwegs, findet immer wieder für eine Zeitlang Arbeit und Unterkunft, dann geht es weiter. Schließlich hat er sein Ziel erreicht: Die offene See! Hier lernt er Dulcie kennen, eine ältere, ganz und gar unkoventionelle Frau, die ein abgelegenes Cottage bewohnt. Durch sie tut sich für ihn eine ganz neue Welt auf: die Welt der Kunst und des unbekümmerten Genießens jenseits von Wohlanständigkeit und Pflichterfüllung, vor allem aber die Welt der Dichtung. Doch er spürt in ihr auch einen tief verborgenen Schmerz. Als er auf ihrem verwilderten Grundstück eine halb verfallene, aber einst liebevoll eingerichtete Hütte renoviert, macht er einen Fund, der das Leben für beide tiefgreifend verändert. „Offene See“ erzählt einfühlsam und mit großer Bildkraft, wie die Begegnung mit Natur und Dichtung einem jungen Menschen die Richtung weist. Ein rundum beglückendes Leseerlebnis!
Hagar Shipley ist über 90 und keine angenehme Zeitgenossin: kratzbürstig, misstrauisch und undankbar macht sie ihrem Sohn Marvin („Trottel“) und seiner Frau Doris („dumme Trutsche“) das Leben schwer. Die beiden wohnen bei ihr im Haus und sie wehrt sich erbittert dagegen, ins Seniorenheim „Silberfaden“ umzuziehen, als ihre Kräfte schwinden. Schließlich flieht sie bei Nacht und Nebel ins Ungewisse. Die Reise wird auch zur Reise in die Vergangenheit: hinter ihr liegt ein mühseliges Leben voller, auch selbst verschuldeter Fehlschläge und ein tragisches Ereignis, das sie nie verkraftet hat. Fasziniert folgt man dem Gedankenstrom dieser unbequemen Frau bis zu seinem Ende.
In Kanada wird Margaret Laurence (1926 – 1987) in einem Atemzug mit Alice Munro und Margaret Atwood genannt – zu Recht!
Samuel kommt Anfang der 1970er-Jahre auf einem kleinen Pfarrhof im Banat zur Welt. Sein Vater Hannes betreut eine kleine, vorwiegend deutsche Kirchengemeinde, das Dorfleben ist aber durch ethnische Vielfalt geprägt und verläuft weitgehend harmonisch. Samuel ist still und zurückhaltend und fühlt sich am wohlsten bei den Frauen der Familie: Bei seiner schweigsamen Mutter Florentine und bei der Großmutter Karline, die eine geborene Geschichtenerzählerin ist. Außerdem fühlt er eine tiefe Verbundenheit mit Stana, seiner Freundin seit Kindertagen. Allerdings stellt sich heraus, dass ihr Vater als Spitzel beim rumänischen Geheimdienst arbeitet und zunehmend zur Bedrohung wird. Als schließlich auch Hannes zum Verhör einbestellt wird, beschließt Samuel zu fliehen...
In einer wunderbaren, wie schwebenden Sprache, die zugleich voller sinnlicher Details ist, erzählt Iris Wolff von Verlust und Neuanfang und von Verbundenheit über Grenzen hinweg. Es ist ein Roman zum Langsamlesen, es zählt jeder Satz. Er wurde 2020 für den Deutschen Buchpreis, für den Bayerischen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe- Preis nominiert.
Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren vier Kindern am Rand eines Bergdorfes in Vorarlberg. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Dass Maria fast überirdisch schön ist, verstärkt ihr Außenseiterdasein noch. Als der erste Weltkrieg beginnt, wird auch Josef zur Armee eingezogen. Die Familie wird zunächst vom Bürgermeister mit Lebensmitteln unterstützt, doch der verfolgt dabei eigene Interessen. Josef kommt zwei Mal für wenige Tage heim, dann gehen bis zum Ende des Krieges nur noch kurze Briefe hin und her. Maria bekommt in dieser Zeit ein weiteres Kind, Margarethe, es ist die Mutter der Erzählerin. Doch der Vater wird nach seiner Heimkehr dieses Kind niemals anschauen und nie ein Wort mit ihm sprechen. Er ist überzeugt, nicht der Vater zu sein.
Monika Helfer verschränkt in ihrem schmalen Roman äußerst kunstvoll die Geschichte Marias mit ihrer eigenen Lebensgeschichte. Aber auch das Erleben der Kinder und ihre weitere Entwicklung wird eindrucksvoll beschrieben: Wie wirken sich die Beschädigungen in der Kindheit über die Jahre und sogar über Generationen hinweg aus? Dass die Autorin zudem für ihren „Dorfroman“ einen ganz eigenen Sprachstil entwickelt hat, macht ihn zu großer Kunst.
Sommer 1969. Während auf den Straßen Kölns gegen den Vietnamkrieg demonstriert wird, fiebert der 11-jährige Tobias der ersten Mondlandung entgegen. Außerdem beobachtet er die zunehmende Entfremdung zwischen seinen Eltern. Als ins Nachbarhaus ein linkes und etwas flippiges Ehepaar mit ihrer 13-jährigen Tochter Rosa einzieht, kommt einiges in Bewegung. Die Mutter entwickelt unter dem Einfluss der Nachbarin plötzlich eigene berufliche Interessen, und Tobias lernt durch Rosa nicht nur die Popmusik kennen, sondern auch Berührungen und Gefühle, die fast so spannend sind wie die bevorstehende Mondlandung. Eines Tages macht Tobias eine folgenschwere Entdeckung, die diesem Sommer eine tragische Wendung gibt. Ulrich Woelk erzählt mit viel Feingefühl von einem Aufbruch, persönlich und politisch, der in einer familiären Katastrophe endet. „Der Sommer meiner Mutter“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert.
Es ist das letzte Kriegsjahr in dem kleine Ort Kall in der Eifel. Egidius Arimond, ein entlassener Gymnasiallehrer, verdient seinen Lebensunterhalt notdürftig als Bienenzüchter. Sein Leben ist mehrfach gefährdet: er ist Epileptiker, immer schwieriger wird es für ihn, an die lebenswichtigen Medikamente zu kommen, seine Anfälle werden häufiger und schwerer. Außerdem ist er den Frauen verfallen und fängt ausgerechnet eine Affäre mit der Frau des NS-Kreisleiters an. Und das allergefährlichste: er betätigt sich als Fluchthelfer, indem er in präparierten Bienenkörben Juden über die belgische Grenze bringt. Unterdessen werden die Bombardements der Amerikaner immer heftiger...Norbert Scheuer zeichnet in Form eines Tagebuchs ein ungeheuer eindrucksvolles Porträt eines stillen, einsamen und zugleich eigenwilligen Mannes, der ohne viel Aufhebens dem Zeitgeist widersteht. „Winterbienen“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert.
Sasa Stanisic versucht in seinem autobiografisch geprägten Roman seine Herkunft zu definieren. Anlass ist die zunehmende Demenz seiner Großmutter mit der er an die Orte ihrer gemeinsamen Vergangenheit, ins ehemalige Jugoslawien, reist. Er sammelt Erinnerungen, wobei seine Großmutter ihre verliert. Doch auf seine Frage, wo sie zu Hause sei, antwortet sie: „Es zählt nicht…woher man ist. Es zählt, wohin du gehst. ..Schau mich an: ich weiß weder, woher ich komme, noch wohin ich gehe. Und ich kann dir sagen: Manchmal ist das gar nicht so schlecht.“ (S.327). Stanisic schreibt über Ereignisse, die sein Leben geprägt haben, so dass sich die Herkunft nicht nur allein am Geburtsort festmachen lässt. Humorvoll, aber auch anrührend erzählt er von seiner Kindheit, seiner Jugend in Deutschland und dem Verhältnis zu seinen Verwandten. Dabei entsteht kein eng umrissenes Selbstportrait. Die Erlebnisse sind wie Puzzleteile, die sich auch anders hätten zusammensetzen können. Ein Buch das den Kopf frei macht vom Denken in engen regionalen Grenzen.