Fred hat Erfahrung als Konsulin. Sie ist eine Frau, die eigentlich nichts aus der Ruhe bringt. Sie ist überall und nirgends zu Hause. Doch nach unvorgesehenen Ereignissen in Montevideo scheitert sie erstmals in ihrer Karriere und wird ins politisch aufgeheizte Istanbul versetzt. Dort versucht sie, auf nicht immer legale Art und Weise, auf politische Ereignisse einzuwirken. Zwischen Justizpalast und Sommerresidenz, Geheimdienst und deutsch-türkischer Zusammenarbeit, zwischen Affäre und Einsamkeit stößt sie an die Grenzen von Freundschaft, Rechtsstaatlichkeit und europäischer Idee. Sie beginnt am Sinn ihres Berufes und ihrem Glauben an Diplomatie zu zweifeln. Realitätsnah und mit trockenem Humor wird der Diplomatenalltag beschrieben, der neben den außenpolitischen Dimensionen auch sehr komische Seiten hat.
In einer Kommunalka, westlich von Moskau, leben Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin auf engstem Raum. Es ist der 11.März 1985. Der Beginn einer neuen Zeit, von der zu diesem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnt. Gorbatschow wird der nächste Generalsekretär des Zentralkomitees und wird versuchen mit Glasnost und Perestroika der Sowjetunion eine neue Richtung zu geben. Doch noch herrscht eine Stimmung der gegenseitigen Zurückhaltung und des Misstrauens, die bei den Bewohnern der Kommunalka auf unterschiedlichste Weise zum Vorschein kommt. Jeder geht seinem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen. Katerina Poladjan beschreibt mit Humor und teils surrealen Bildern die Stimmung dieser Zeit und die Sehnsucht der Menschen nach einer Verbesserung ihrer Lebensumstände. Aus heutiger Sicht gab es nach 1985 viele positive Veränderungen und um so bedrückter blickt man auf die aktuelle Situation in Rußland.
Bay City, 1960: Am Ende der Veronica Lane im amerikanischen Niemandsland wird ein Wellblechhaus abgeliefert, eine Familie zieht ein. Das kriegsverheerte Europa haben sie hinter sich gelassen, denn damals scheint die Zukunft in Amerika zu liegen, diesem Land, in dem alles neuer, bunter, fröhlicher ist. Die Geschichte lässt sich aber nicht verdrängen. Amy, in den USA geboren, wird in ihren Träumen von den in Auschwitz ermordeten Mitgliedern ihrer Familie heimgesucht und macht eines Tages im Keller des kleinen Wellblechhauses eine verstörende Entdeckung. Eine Entdeckung, die sie niemals vollständig verlassen wird – gleichgültig wo auf der Welt sie sich befindet, ob in entlegenen Landschaften oder der Weite des Himmels.
Dieses Buch ist vom ersten bis zum letzten Wort ein Albtraum, ein wahrer Höllenritt und eines der besten Bücher der letzten Zeit. Inhalt und Sprache sind dicht, reduziert und roh und gleichzeitig von einer düsteren Schönheit. Die Bilder, die Mavrikakis zeichnet, sind scharf ausgeleuchtet, mit harten Farben, die keine Schatten werfen. Kein Wort zu viel, kein Bild zu viel. Monolithisch steht Sequenz neben Sequenz und entwickelt einen ungeheuerlichen Sog. (KH)
Gifty, Tochter eines Einwandererpaars aus Ghana, hat es geschafft: sie ist eine erfolgreiche Neurowissenschaftlerin geworden und erforscht in einem Labor der kalifornischen Stanford University das Suchtverhalten von Mäusen. Eines Tages findet sie ihre Mutter, von der sie länger nichts gehört hat, in ihrer Wohnung vor: teilnahmslos liegt sie im Bett und reagiert auf keinerlei Ansprache. Das bleibt für Wochen so und weckt in Gifty schmerzhafte Erinnerungen an ihre Kindheit; als sie 11 Jahre alt war, ist ihr neun Jahre älterer Bruder an einer Überdosis Heroin gestorben, worauf die Mutter in eine schwere Depression verfiel. Der Vater, der besonders unter dem üblichen Alltagsrassismus litt, war damals schon zurück nach Ghana gegangen. Gifty war mehr oder weniger auf sich gestellt, fand einen gewissen Halt in einer evangelikalen Gemeinde und später dann in der Wissenschaft. Erkenntnis statt Emotionen – dafür hat sie sich entschieden, sie lebt für ihre Forschung, private Beziehungen vermeidet sie weitgehend.
Dieser Schutzpanzer wird nun mit dem Auftauchen der immer noch tief gläubigen Mutter brüchig. Depression und Sucht in der eigenen Familie – was nützt hier das hirnphysiologische Wissen?
Gifty versucht einen neuen persönlicheren Zugang, indem sie sich den Erinnerungen stellt.
Eine Frau um die fünfzig versucht einen Neuanfang: nachdem ihre Tochter erwachsen ist, verlässt sie ihren Ehemann Otis und zieht in einen kleinen Ort an der Ostsee, wo ihr Bruder eine Hafenkneipe betreibt. Sie mietet eine einfache Bauernkate und arbeitet bei ihrem Bruder als Kellnerin. Vorsichtig knüpft sie erste Bekanntschaften: mit Mimi, einer Künstlerin, und mit Arild, der auf seinem Bauernhof tausend Schweine hält. Mit diesem unzugänglichen und wortkargen Mann beginnt sie eine Affäre, wohl wissend, dass daraus keine tiefere Beziehung werden kann. "Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene". In fragmentarischen Rückblicken auf ihr Leben wird deutlich, dass dies wohl für alle ihre Beziehungen galt. Was weiß sie von ihrer Tochter Ann, die bindungslos durch die Welt zieht und nur gelegentlich per SMS ihren Aufenthaltsort mitteilt? Und was bedeutet ihr Otis, mit dem sie immer noch Briefkontakt hat? Kann es für sie überhaupt ein neues Leben oder gar erstmals ein „Daheim“ geben? Judith Herrmann hat einen makellosen Roman geschrieben, in dem jeder Satz sitzt. Bedeutsam ist auch, was nicht erzählt wird; hier ist der Leser gefragt. Deshalb wirkt das Buch lange nach.
„Daheim“ wurde für den Leipziger Buchpreis 2021 nominiert.
Nach zwei Romanen, die von ihrer Familiengeschichte inspiriert waren, ist „Welten auseinander“ der Bericht einer verstörenden Kindheit und Jugend. Mit acht Jahren übersiedelte Julia Franck mit ihrer alleinerziehenden Mutter und den Schwestern in den Westen; zuerst in das Notaufnahmelager Marienfelde, später in ein heruntergekommenes Bauernhaus in Schleswig-Holstein, wo sie von Sozialhilfe leben. Die Verhältnisse sind chaotisch, die Mutter völlig überfordert, die Kinder verwahrlosen regelrecht. Schon früh sucht Julia Zuflucht in Büchern und schreibt wie besessen Tagebuch. Mit dreizehn hält sie es nicht mehr aus und zieht nach Berlin, zunächst zu einem befreundeten Paar, dann in eine WG. Sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn bald wieder, schlägt sich mit Putzen durch und schafft trotz allem das Abitur. Sie begegnet Stephan, ein neues, glückliches Kapitel in ihrem Leben scheint zu beginnen, doch dann kommt alles anders...
Es ist ein autobiographischer Text, der ohne Pathos, Bitterkeit und Selbstmitleid auskommt und über das persönlich Erlebte hinausweist. Bewegend!
Nach zwei Jahrzehnten kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zu einem Ort ihrer Kindheit – ein Holzhaus am See – zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Hier haben sie jahrelang mit den Eltern die Sommerferien verbracht. Im Kampf um die Liebe der Mutter, die abweisend und grob, dann wieder zärtlich war, haben die Jungen sich damals aufgerieben. Auch der Vater war schwankend zwischen Gleichgültigkeit und Überforderung. Weitgehend waren die Kinder sich selber überlassen. Benjamin, der mittlere Bruder, tastet sich nun in der Erinnerung Stück für Stück zurück, bis zu jenem Sommer, in dem ein schreckliches Unglück geschah und die Familie auseinanderbrach. Wie wird das Treffen der erwachsenen Brüder nun ablaufen? Nur so viel sei verraten: irgendwann taucht vor dem Sommerhaus die Polizei auf…
„Die Überlebenden“ ist ein großartiges Debüt, das von der ersten bis zur letzten Seite fasziniert.
Jakob Thurner, ein bekannter Schauspieler, wird kurz vor seinem 60. Geburtstag mehrmals von einem aufdringlichen Journalisten interviewt, der eine Biografie über ihn schreiben will. Seine Tochter Luzy, eine fragile junge Frau, ist bei diesen Interviews dabei und fängt nun selber an, Fragen zu stellen. Eine lautet: „Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?“ Er gibt eine (fast) ehrliche Antwort, worauf Luzie unerwartet heftig reagiert und den Kontakt zu ihm abbricht. Jakob muss sich nun seinen Erinnerungen stellen: Was ist zwanzig Jahre zuvor bei Dreharbeiten für einen Film an der amerikanisch-mexikanischen Grenze wirklich geschehen? Aber auch die familiären Beziehungen beschäftigen ihn zunehmend: Jakob hat drei Ehen hinter sich, und Luzy hat die meiste Zeit bei ihm gelebt; es war eine, wie es schien, innige Vater-Tochter-Beziehung. Nun muss er sich fragen, ob es da nicht auch schwere Versäumnisse gab. „Der zweite Jakob“ ist, aus der Ich-Perspektive erzählt, das eindringliche Portrait eines viel-schichtigen Menschen, der sich nicht festlegen lassen will und simple moralische Urteile verachtet. Nach einem äußerlich erfolgreichen Leben weiß er nicht, wer er ist und wieviel er taugt – und steht dazu. Ein intensives Buch, das zu denken gibt. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert (Shortlist).
Gabriele von Arnim beschreibt in ihrem Buch das Zusammenleben mit ihrem Mann, den sie nach zwei Schlaganfällen zehn Jahre gepflegt hat. Eigentlich wollte sie sich kurz vorher von ihm trennen, doch die Krankheit kam dazwischen. Und für sie bestand kein Zweifel, dass sie sich um ihn kümmern wird. Dies war keine nur aufopfernde Tätigkeit, sondern hatte viele Facetten mit dem zwar bewegungsunfähigen, aber im Geist klaren Mann zusammenzuleben. Sie versucht sich in ihren Mann hineinzuversetzen: „Wie ist es, mit wachem Geist hinter Mauern zu sein?“ Ihr Mann, dem seine Unabhängigkeit immer so wichtig war. Wie hilflos wirken dagegen manche Freunde bei dem Versuch, mit der Situation umzugehen. Wer kann helfen, ohne sich selbst zu betroffen dafür zu fühlen. Welche Wut entsteht bei ihr, wenn es wieder Rückschläge gibt. Von Arnim bezieht Beispiele aus der Literatur mit ein, die ihr in dieser Zeit Unterstützung geben. Es ist kein larmoyantes Buch, sondern mit großer Ehrlichkeit, aber auch Ironie geschrieben, nicht um der Bewunderung willen, sondern um sich nach dem Tod ihres Mannes das Geschehen noch einmal zu vergegenwärtigen. Es ist ein Buch über Liebe, Würde und das Aushalten von Unzumutbarem. Beeindruckend!
Die Anthropologin Nastassja Martin hat über Jahre hinweg die Kultur der Ewenen in Kamtschatka erforscht und dabei immer wieder Monate lang bei einer Familie mitten in der Waldwildnis gelebt. Eines Tages bricht sie trotz der Warnungen der Einheimischen zum gletscherbedeckten Gipfel eines Vulkanberges auf – und hat auf dem Rückweg die Begegnung ihres Lebens! Sie wird von einem Bären angegriffen und überlebt wie durch ein Wunder, schwer verletzt und mit zerbissenem Gesicht. Nach etlichen Operationen zunächst in Russland und später in Frankreich kehrt sie zu ihrer ewenischen Familie zurück, um das Erlebte zu verarbeiten und Heilung zu erfahren. Von manchen wird sie jetzt als „matucha“, Bärin, geehrt, bestimmt „zwischen den Welten“ zu leben. Doch nicht alle Mitglieder der Familie sind von ihrer Rückkehr begeistert...
Nastassja Martin erzählt in ihrem autobiografischen Bericht ungemein packend, wie sie die animistische Vermischung zwischen Mensch und Tier, die sie zuvor als Wissenschaftlerin studiert
hat, nun an sich selber erlebt – als tiefgehende Befreiung.
Gemeinsam mit dem berühmten Tierfotografen Vincent Munier reist der Abenteurer und Schriftsteller Tesson in eine der abgelegensten Regionen der Welt. In Tibet wollen sie eines der seltensten Tier der Welt beobachten und fotografieren: den Schneeleopard. Die Reise geht durch scheinbar menschenleere Gegenden und karge, zerklüftete Landschaften. Schließlich schlagen sie ihr Zelt neben der Hütte einer Hirtenfamilie auf, auf über 4000 Meter Höhe bei Minus 20 Grad – unvorstellbar, dass man hier leben kann! Stundenlang harren sie täglich auf ihren Beobachtungsposten aus, immer in der Hoffnung, dem Schneeleoparden zu begegnen. Viel Zeit, um über den Zustand einer Welt nachzudenken, in der es kaum noch Raum gibt für das Ungebändigte und die Schönheit ungenutzter Natur. Was als Abenteuerreise beginnt wird so zunehmend zu einer meditativen und poetischen Befragung unserer Lebensweise.
Es gibt übrigens ein Vorgängerbuch mit demselben Titel, das bei Tesson auch erwähnt wird. Peter Matthiesen hat sich 1973 ebenfalls auf die Suche nach dem Schneeleoparden begeben; auch er verbindet Naturbeobachtung mit philosophischer Reflexion: Peter Matthiesen, Der Schneeleopard, Matthes & Seitz. Am besten, beide lesen!
Abigail, eine sympathische und selbstbewusste Frau, ist Expertin für die Psychologie des Tötens. Im Auftrag des israelischen Militärs hilft sie Soldaten, den Feind zu besiegen und selbst am Leben zu bleiben. Denn das Töten, so sieht es Abigail, liegt nicht in der Natur des Menschen, er muss es trainieren – möglichst ohne davon traumatisiert zu werden. Das gelingt nicht immer. Zum Beispiel bei Mendi, ein früherer Patient und Freund, der nach seinen Kriegseinsätzen Künstler geworden ist und zurückgezogen in einem Moschav lebt. Er vermisst den Kick des Tötens noch immer und kann seine Erlebnisse nicht vergessen. Dann wird Abigails Sohn Schauli zum Militär eingezogen; und ausgerechnet er erleidet während eines Gefechts eine Panikattacke. Sie holt ihn nach Hause und muss eine schwere Entscheidung treffen.
Wie schon in „Monster“, das die Holocaust–Gedächtniskultur in Auschwitz zum Thema hat, fasst Yishai Rashid in seinem neuen Roman wieder ein heißes Eisen an. Er zwingt beim Lesen in die Sichtweise von SoldatInnen und ihrer Führungspersonen, denn „Siegerin“ ist aus der Ich- Perspektive Abigails erzählt, und unwillkürlich identifiziert man sich mit ihr. Der Roman hat keine eindeutige Botschaft; er gibt vielmehr zu denken und hallt deshalb lange nach.
Der Autor möchte seiner Mutter in ihren letzten Lebenswochen nahe sein. Deshalb kehrt der Weitgereiste nun heim. Er will aber nicht im verlassenen Elternhaus wohnen. Statt dessen bezieht er eine Jagdhütte im Wald, ohne Strom und Wasser und im März noch eiskalt. Außerdem nicht abschließbar. Er wird dort bleiben bis in den Herbst, eine Auszeit der besonderen Art. Regelmäßig besucht er seine Mutter im Pflegeheim und kommt ihr, obwohl kaum noch Gespräche möglich sind, nach langer Entfremdung innerlich wieder ein Stück näher. Ansonsten das Leben im Wald: Der Gang der Jahreszeiten, vielfältige, nie gehörte Geräusche bei Nacht, Einsamkeit und Geborgenheit, Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Aber auch heftige Stürme und die Borkenkäferplage, kurze Gespräche mit Waldarbeitern, Rundgänge mit dem Förster, schließlich auch eine Jagd. Es ist eine Zustandsbeschreibung des Waldes wie des eigenen Inneren, genaue Beobachtung, verbunden mit persönlicher Reflexion – unbedingt lesenswert!
In einer kleinen Wohnung am Rande der Metropole Seoul lebt Kim Jiyoung. Die Mitdreißigerin hat erst kürzlich ihren Job aufgegeben, um sich um ihr Baby zu kümmern – wie es von koreanischen Frauen erwartet wird. Als junge Mutter zeigt Jiyoung plötzlich seltsame Symptome: ihre Persönlichkeit scheint sich aufzuspalten, denn die schlüpft in die Rollen ihr bekannter Frauen. Jiyoungs Psychiater, die Erzählstimme des Romans, beschreibt ihren Werdegang als bestimmt von Frustration und Unterwerfung. Ihr Verhalten wird stets von den männlichen Figuren um sie herum überwacht. Willkommen in der Welt der Frauen und ihrer Alltagsmisogynie. Jiyoungs Leben ist unfassbar durchschnittlich. Das ist die erste große Stärke dieses schmalen Buches: die absolute Gewöhnlichkeit ihrer Existenz. Die zweite ist die Sprache, die diesen Inhalt spiegelt und transportiert. Der Roman liest sich phasenweise fast wie ein Bericht, was durch Fußnoten mit Zahlen/Daten/Fakten zur Stellung der Frau in Südkorea noch unterstrichen wird. Dennoch bleibt das Literarische des Textes und auch sein Fluss erhalten. Man will Jiyoung durch ihr Leben folgen und wissen, ob es ein anderes Ende als das vorgezeichnete haben kann. Kann es? In Korea hat das Buch Massenproteste ausgelöst.
Wer ist Noëlle Lefebvre? Warum verlor sich Mitte der 60er Jahre ihre Spur? Jean Eyben ist knapp zwanzig, als er in einer Pariser Detektei anheuert und auf die verschwundene Noëlle Lefebvre angesetzt wird. Alle Hinweise führen ins Leere. Da sind die Namen von Noëlles Kontakten, das schmale, damals heimlich entwendete Dossier und ihr sporadisch geführter Kalender mit dem geheimnisvollen Satz „Wenn ich gewusst hätte…“. Als Jean einen Jugendfreund trifft, erscheint ihm ein Detail plötzlich von Bedeutung: Noëlle Lefebvre stammt aus „einem Dorf in der Umgebung von Annecy“. So wie er selbst.
Erneut ist Modianos Roman mit kriminologischen Elementen versetzt und einer Aura des Melancholischen, des Traumhaften. Es ist auch ein Buch über das Schreiben, über das im Schreiben Sich-Vergewisserns und Sich-Erinnerns. Es sind kollektive Bilder, die Modiano zeichnet: Man möchte durch Paris streifen, oder später durch Rom, Sonne oder Regen spüren, im Café sitzen, eine Bar betreten, Menschen beobachten, denken, sehen… Die Figuren leben ihr Handeln in cineastischen Szenen. Man selbst taucht ein in diese Bilder, liest weniger, als dass man dem eigenen inneren Bilderstrom folgt. Konzentrierte Atmosphäre auf Papier.