Necati Öziri ist Theaterautor und dies sein erster Roman. Der zwanzigjährige Arda liegt mit Organversagen im Krankenhaus und weiß, dass er nicht mehr lange leben wird. Täglich besuchen ihn abwechselnd seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin, die seit zehn Jahren nicht mehr miteinander sprechen. Sein Vater hat seit langem die Familie verlassen und in der Türkei, ihrer aller Geburtsland, eine neue Familie gegründet. Sein nahes Lebensende nimmt Arda zum Anlass seinem Vater, zu dem er keinen Kontakt mehr hat, sein Leben und das seiner Mutter und Schwester in Deutschland zu schildern. Er erzählt von seinen Freunden, den Konflikten mit der Ausländerbehörde, von Polizeikontrollen und wie es zum Zerwürfnis zwischen seiner Mutter und seiner Schwester kam. Es ist ihm ein Anliegen seinem unbekannten Vater seine Geschichte zu erzählen, damit dieser nicht sagen kann, er hätte nicht gewusst, wie es seiner Familie in Deutschland ergangen ist. Sehr lesenswert und berechtigterweise einer der Titel auf der Auswahlliste zum Deutschen Buchpreis.
Ruth Lember soll als Philosophieprofessorin in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Das wäre der Höhepunkt ihre beruflichen Laufbahn.
Doch im Laufe einer Woche ändert sich ihre Lebenssituation komplett. Es beginnt mit einem Hundebiss am Montagmorgen, dem sie zunächst keine große Bedeutung beimisst. Doch diese Verletzung und weitere Ereignisse ziehen sich durch die Woche. Ein Jugendfreund taucht nach Jahren auf und konfrontiert sie mit ihrer Vergangenheit und ihren politischen Aktivitäten zu Studienzeiten. Diese kollidieren mit ihrem heutigen Persönlichkeitsprofil und ihrer beruflichen Zukunft. In der Diskussion mit der Tochter ihres Lebenspartners, die sich bei der Letzten Generation engagiert, wird viel Heutiges dem Engagement der früheren Umweltaktivistin gegenüber und in Frage gestellt.
Der Roman von Ulrich Woelk greift ein aktuelles Thema auf. Wie weit darf ich gehen, um meine politischen Ziele durchzusetzen ?
20. November 1945: Die Welt blickt auf Nürnberg. Erstmalig werden dort die politisch und die militärisch Verantwortlichen eines Verbrecherregimes zur Verantwortung gezogen. Der Ort hat Symbolcharakter –Hitlers Reichsparteitage fanden in Nürnberg statt, die gleichnamigen Gesetze „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ wurden dort erlassen. Die Anklagepunkte: Verschwörung gegen den Frieden, Entfesselung und Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zweihundertfünfzig Journalisten aus aller Welt sind angereist, um zu berichten, zu dokumentieren, zu erzählen, darunter John Dos Passos, Elsa Triolet, Rebecca West, Martha Gellhorn, Alfred Döblin, Erika Mann, Erich Kästner, Wolfgang Hildesheimer, Willy Brandt und sein späterer Gegenspieler Markus Wolf. Die amerikanische Journaille war im Press Camp in Stein, im Schloss der Bleistiftdynastie Faber-Castell untergebracht, nur die Männer, die Frauen – reine Männersache sei dieser Prozess, kritisierten sie –, in einer Villa im Schlosspark. Die Arbeits- und Wohnbedingungen war schwierig, die Haltung der Pressevertreter gegenüber Deutschland und seinem Volk kontrovers, der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus (die sowjetischen Journalisten logierten nicht im Schloss, aber immerhin wurde nachts gemeinsam getrunken, getanzt und gefeiert). Und immer die Frage: Wie unsägliches Grauen in Worte fassen? Wie unfassbare Verbrechen dokumentieren? Und was hat dieser Prozess mit den Journalisten gemacht? In Einzelporträts geht der Autor diesen Fragen nach und entwirft ein Panorama der Prozessjahre 1946 bis 1949 und ihrer Protagonisten. Eine äußerst lohnenswerte Lektüre!
Vor zwanzig Jahren diskutierten Teresa und Stefan am Küchentisch ihrer Kleinst-WG; soffen, stritten und vertrugen sich wieder. Sie waren einander Familie, Liebe war zumindest bei Teresa nicht vorgesehen. Jetzt sind sie Mitte vierzig, und ihr Alltag könnte nicht unterschiedlicher sein: Teresa rackert sich auf dem Hof ihres Vaters in Brandenburg ab, hat Milchkühe, Angestellte, zwei Kinder, einen Mann und Schulden bis über beide Ohren. Stefan leitet die Kulturredaktion eines altehrwürdigen BRD-Blattes, sitzt als Single in einer schicken Wohnung und redet sich ein, dass alles passt in seinem Leben. Die erste zufällige Begegnung mündet in Zoff, aber man bleibt in Kontakt. Und in E-Mails und WhatsApp-Nachrichten entbrennt ein streitbarer Dialog, in dem vieles hochkocht – Gendersprache, Rassismusdiskussion, Klimakrise, sogenannte Sachzwänge und die Ukraine. Aber immer ist da auch eine tiefe Sehnsucht nach Nähe, nach Verstandenwerden – ein hochaktueller Roman um Gräben, die mitten durchs Land und unsere Beziehungen laufen. Und trotz aller Themen und Thesen voller Tempo und Lust am Erzählen.
Der isländische Autor Jón Kalman Stefánsson gibt uns in seinem Roman einen tiefen Einblick in das karge Leben der Isländer, über fast zwei Jahrhunderte hinweg. Der Erzähler ist ein Mann, der sich zu Beginn in einer Kirche wiederfindet und sein Gedächtnis verloren hat. Er trifft im Ort auf Personen, die ihn kennen und mit Hilfe derer Geschichten er sich langsam an sein eigenes Leben zu erinnern beginnt. Der Hauptteil des Romans besteht aus Rückblicken, in denen die Lebensgeschichten verschiedener Familien und deren Nachkommen bis in die Gegenwart erzählt werden. Auch wenn diese nicht chronologisch erzählt sind, kann man ihnen gut folgen und erwartet mit Spannung, wie sich ihr Leben entwickelt, denn die Situationen sind zutiefst menschlich und lebensnah. Amüsant ist dabei der teilweise ironische Blick des Erzählers auf die Geschehnisse und seine Gespräche mit einem imaginären Zuhörer von dem man nicht weiß, ob er von Beruf Busfahrer, Priester oder vielleicht sogar der liebe Gott selbst ist. Wer schon einmal Aufnahmen von Island gesehen hat, kann sich durch die Beschreibungen von Stefánsson sehr gut vorstellen, wie gerade das raue Klima Einfluß auf das Leben der Menschen hat. Ein Roman, der einen durch die Intensität der beschriebenen Figuren so schnell nicht loslässt!
Harald Meller und Kai Michel weisen in ihrem spannenden und humorvoll geschriebenen Buch nach, wie das patriarchale, ideologische und koloniale Denken in der Archäologie und der Geschichtsforschung eine unheilige Allianz eingegangen sind, um den jeweiligen Zeitgeist zu bestärken. Das hat mit unvoreingenommener, neutraler Wissenschaft nichts zu tun. Geht man aber objektiv an die Historie, dann hat die Archäologie das Potential, unsere Gewissheiten auf den Kopf zu stellen. Die Schamanin von Bad Dürrenberg erwacht wieder zum Leben und hat uns auch heute noch etwas Wichtiges zu sagen – nämlich, woher wir kommen und wie die Vergangenheit in uns bis heute nachwirkt. Sie holt das zutiefst Menschliche wieder ans Tageslicht, das uns immer wieder die Richtung zeigt im Umgang mit der Welt. Deshalb ist die Vergangenheit gerade heute so aktuell wie nie zuvor, denn sie weist Richtungen auf, die zu Lösungen der aktuellen Katastrophen führen können. Heller und Michel ist damit ein wichtiges Buch gelungen, das gut mit heutigen Erkenntnissen über den Schutz der Umwelt, mit dem spirituellen Grundbedürfnis der Menschen und mit einem guten sozialen Miteinander verbunden werden kann.
Das neue Buch von Mariana Leky sind Kolumnen, die bereits in der Zeitschrift "Psychologie heute" erschienen sind. Doch hier wurden sie zusammengefasst und nehmen dadurch beinahe die Gestalt eines Romans an. Wie schon in ihren früheren Büchern beobachtet die Autorin mit Wärme und Humor ihre Mitmenschen. Diesmal die Bewohner eines Mehrfamilienhauses. So schreibt sie über Frau Wiese, die nicht mehr schlafen kann; Herrn Pohl der nachhaltig verzagt ist; Lisas ersten Liebeskummer; Frau Schwerter muss ganz dringend entspannen, ein trauriger Patient hat seine Herde verloren, und Psychoanalytiker Ulrich legt sich mit der Vergänglichkeit an. Kummer aller Art plagt die Menschen, die sich, mal besser, mal schlechter, durch den Alltag manövrieren. Aber durch den Kummer sind sie vereint. Und das ist schon mal eine Hilfe!
Klug, humorvoll und mit großem Sinn für Feinheiten und Absurditäten porträtiert Mariana Leky Lebenslagen von Menschen, denen es nicht an Zugänglichkeit mangelt, wohl aber am Mut zur Erkenntnis, dass man dem Leben nicht dauerhaft ausweichen kann.
Als Sui mit achtzehn von zu Hause auszieht, gerät ihr Vater Kai in eine Krise. Er hat Sui allein großgezogen, weil ihre Mutter Miriam sich ganz ihrer Karriere als Künstlerin widmete. Während Kai seinem Architekturbüro den Rücken kehrt, um in Indien Kraft und neuen Sinn zu finden, verlässt auch Sui Kopenhagen und fährt zu ihrer Mutter, die inzwischen in einem einsamen Waldgebiet lebt. Doch die Begegnung mit Miriam bringt Sui nicht die erhofften Antworten. Auf der Suche nach ihren väterlichen Wurzeln reist sie weiter auf die koreanische Insel Marado, ins Matriarchat der Perlentaucherinnen. Es ist eine Familiengeschichte der anderen Art – poetisch, modern und bisweilen ein bisschen spirituell. Die Kapitel werden jeweils aus der Perspektive eines der drei Protagonisten erzählt. So verweben sich die einzelnen Geschichten Stück für Stück zu einem lebendigen Kosmos, in dem alle um alle kreisen und doch für sich in ihrer Individualität unangetastet bleiben. Tind beschreibt eine Suche nach der eigenen Identität, nach einem anderen Familienmodell und nach einem Miteinander ohne sich selbst zu verlieren.
"Yoga" beginnt zunächst ganz heiter: Der Ich-Erzähler plant ein feinsinniges Büchlein über Yoga und das Verhältnis zur Welt, wenn man Abstand zum eigenen Ego gewinnt. Doch dann kippt sein Leben: beim Anschlag auf »Charlie Hebdo« stirbt ein Freund, Carrère wird von einer unkontrollierbaren Leidenschaft erschüttert, eine bipolare Störung wird diagnostiziert, und er verbringt vier quälende Monate in der Psychiatrie, wo er versucht, seinen Geist mit Gedichten an die Leine zu legen. Entlassen und verlassen lernt er auf Leros mit einer Gruppe minderjähriger Geflüchteter ganz anders Haltlose kennen – und doch gibt es auch immer wieder Licht. Denn diese Selbstanalyse zwischen Autobiografie, Essay und Roman erzählt vom mal beherrschten, mal entfesselten Schwanken zwischen den Gegensätzen. Nein, ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga ist es nicht geworden. Trotzdem ist es vielleicht ein Buch über Yoga, über die Haltungsfrage, wie man mit seinem Blick auf die Welt umgeht. Mit seinem Blick auf sich selbst. Und auf andere. Und wie man damit umgeht, wenn nichts mehr geht. Gar nichts mehr. Und vielleicht ist auch ein Buch über die Liebe. Trotz aller Auslassungen und Leerstellen. Gerade deshalb. Gerade deshalb auch ein wirklich gutes.
Ein Roman über die Last, die auf den Frauen abgeladen wird, und das Aufbegehren: Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Sie entzieht sich dem, was das Leben einer Mutter zumutet. Plötzlich fehlt der Familie alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit. Helenes beste Freundin Sarah, die Helene ihrer Familie wegen zugleich beneidet und bemitleidet hat, wird in den Strudel der Trauer und des Chaos gezogen. Lola, die Tochter von Helene, sucht nach einer Möglichkeit, mit ihren Emotionen fertigzuwerden, und konzentriert sich auf das Gefühl, das am stärksten ist: Wut. Die drei Frauen sind weder Klischee noch Schablone. Sie sind differenziert gezeichnete Figuren, die die Rolle und Stellung der Frau in der Gesellschaft scharf abbilden, die mit einer untragbaren Anspruchshaltung an ihr Äußeres und Inneres konfrontiert sind. Helene verweigert sich der ihr zugedachten Rolle in der Absolutheit des Suizids. Sarah tastet sich mühsam und langsam vor in Richtung Selbstermächtigung. Lola radikalisiert sich und schlägt in einer Gruppe von Gleichgesinnten zurück. Aus Opfern werden Rächerinnen. Und ja, das bereitet zwischendurch ein dunkles Vergnügen.
Fred hat Erfahrung als Konsulin. Sie ist eine Frau, die eigentlich nichts aus der Ruhe bringt. Sie ist überall und nirgends zu Hause. Doch nach unvorgesehenen Ereignissen in Montevideo scheitert sie erstmals in ihrer Karriere und wird ins politisch aufgeheizte Istanbul versetzt. Dort versucht sie, auf nicht immer legale Art und Weise, auf politische Ereignisse einzuwirken. Zwischen Justizpalast und Sommerresidenz, Geheimdienst und deutsch-türkischer Zusammenarbeit, zwischen Affäre und Einsamkeit stößt sie an die Grenzen von Freundschaft, Rechtsstaatlichkeit und europäischer Idee. Sie beginnt am Sinn ihres Berufes und ihrem Glauben an Diplomatie zu zweifeln. Realitätsnah und mit trockenem Humor wird der Diplomatenalltag beschrieben, der neben den außenpolitischen Dimensionen auch sehr komische Seiten hat.
In einer Kommunalka, westlich von Moskau, leben Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin auf engstem Raum. Es ist der 11.März 1985. Der Beginn einer neuen Zeit, von der zu diesem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnt. Gorbatschow wird der nächste Generalsekretär des Zentralkomitees und wird versuchen mit Glasnost und Perestroika der Sowjetunion eine neue Richtung zu geben. Doch noch herrscht eine Stimmung der gegenseitigen Zurückhaltung und des Misstrauens, die bei den Bewohnern der Kommunalka auf unterschiedlichste Weise zum Vorschein kommt. Jeder geht seinem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen. Katerina Poladjan beschreibt mit Humor und teils surrealen Bildern die Stimmung dieser Zeit und die Sehnsucht der Menschen nach einer Verbesserung ihrer Lebensumstände. Aus heutiger Sicht gab es nach 1985 viele positive Veränderungen und um so bedrückter blickt man auf die aktuelle Situation in Rußland.
Bay City, 1960: Am Ende der Veronica Lane im amerikanischen Niemandsland wird ein Wellblechhaus abgeliefert, eine Familie zieht ein. Das kriegsverheerte Europa haben sie hinter sich gelassen, denn damals scheint die Zukunft in Amerika zu liegen, diesem Land, in dem alles neuer, bunter, fröhlicher ist. Die Geschichte lässt sich aber nicht verdrängen. Amy, in den USA geboren, wird in ihren Träumen von den in Auschwitz ermordeten Mitgliedern ihrer Familie heimgesucht und macht eines Tages im Keller des kleinen Wellblechhauses eine verstörende Entdeckung. Eine Entdeckung, die sie niemals vollständig verlassen wird – gleichgültig wo auf der Welt sie sich befindet, ob in entlegenen Landschaften oder der Weite des Himmels.
Dieses Buch ist vom ersten bis zum letzten Wort ein Albtraum, ein wahrer Höllenritt und eines der besten Bücher der letzten Zeit. Inhalt und Sprache sind dicht, reduziert und roh und gleichzeitig von einer düsteren Schönheit. Die Bilder, die Mavrikakis zeichnet, sind scharf ausgeleuchtet, mit harten Farben, die keine Schatten werfen. Kein Wort zu viel, kein Bild zu viel. Monolithisch steht Sequenz neben Sequenz und entwickelt einen ungeheuerlichen Sog. (KH)
Gifty, Tochter eines Einwandererpaars aus Ghana, hat es geschafft: sie ist eine erfolgreiche Neurowissenschaftlerin geworden und erforscht in einem Labor der kalifornischen Stanford University das Suchtverhalten von Mäusen. Eines Tages findet sie ihre Mutter, von der sie länger nichts gehört hat, in ihrer Wohnung vor: teilnahmslos liegt sie im Bett und reagiert auf keinerlei Ansprache. Das bleibt für Wochen so und weckt in Gifty schmerzhafte Erinnerungen an ihre Kindheit; als sie 11 Jahre alt war, ist ihr neun Jahre älterer Bruder an einer Überdosis Heroin gestorben, worauf die Mutter in eine schwere Depression verfiel. Der Vater, der besonders unter dem üblichen Alltagsrassismus litt, war damals schon zurück nach Ghana gegangen. Gifty war mehr oder weniger auf sich gestellt, fand einen gewissen Halt in einer evangelikalen Gemeinde und später dann in der Wissenschaft. Erkenntnis statt Emotionen – dafür hat sie sich entschieden, sie lebt für ihre Forschung, private Beziehungen vermeidet sie weitgehend.
Dieser Schutzpanzer wird nun mit dem Auftauchen der immer noch tief gläubigen Mutter brüchig. Depression und Sucht in der eigenen Familie – was nützt hier das hirnphysiologische Wissen?
Gifty versucht einen neuen persönlicheren Zugang, indem sie sich den Erinnerungen stellt.
Eine Frau um die fünfzig versucht einen Neuanfang: nachdem ihre Tochter erwachsen ist, verlässt sie ihren Ehemann Otis und zieht in einen kleinen Ort an der Ostsee, wo ihr Bruder eine Hafenkneipe betreibt. Sie mietet eine einfache Bauernkate und arbeitet bei ihrem Bruder als Kellnerin. Vorsichtig knüpft sie erste Bekanntschaften: mit Mimi, einer Künstlerin, und mit Arild, der auf seinem Bauernhof tausend Schweine hält. Mit diesem unzugänglichen und wortkargen Mann beginnt sie eine Affäre, wohl wissend, dass daraus keine tiefere Beziehung werden kann. "Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene". In fragmentarischen Rückblicken auf ihr Leben wird deutlich, dass dies wohl für alle ihre Beziehungen galt. Was weiß sie von ihrer Tochter Ann, die bindungslos durch die Welt zieht und nur gelegentlich per SMS ihren Aufenthaltsort mitteilt? Und was bedeutet ihr Otis, mit dem sie immer noch Briefkontakt hat? Kann es für sie überhaupt ein neues Leben oder gar erstmals ein „Daheim“ geben? Judith Herrmann hat einen makellosen Roman geschrieben, in dem jeder Satz sitzt. Bedeutsam ist auch, was nicht erzählt wird; hier ist der Leser gefragt. Deshalb wirkt das Buch lange nach.
„Daheim“ wurde für den Leipziger Buchpreis 2021 nominiert.